Heinrich Rahn
Mensch. Universum. Fusion.
EINE UNGLAUBLICHE GESCHICHTE
Der russlanddeutsche abenteuerliche Simplicissimus
Die Überschrift des Romans, „Der Jukagiere“, sowohl der Name des Autors, Heinrich Rahn, bis dahin dem russlanddeutschen Leser völlig unbekannt, lassen aufhorchen. Da kommt ein Unbekannter daher und kommt sofort mit einem Roman, der Großform der Literatur, der anspruchvollsten Form der Literatur, dabei in Deutsch geschrieben – keine Übersetzung aus dem Russischen, wie so üblich bei den meisten russlanddeutschen Autoren. Eine doppelte Bewältigung: inhaltliche und sprachliche gleichzeitig – angesichts der gegenwärtigen Situation des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e. V., wo die Mehrzahl weiter und immer noch das Russisch pflegt, wie lange noch? und nicht mehr davon loskommt, eine außerordentliche Leistung. Gratulation! Der Roman: eine faszinierende Liebesgeschichte, heiße leidenschaftliche unbefleckte Liebe zweier jungen Herzen, die bis zu Ende anhält trotz widrigster unmenschlicher Umstände, politisch und ideologisch verursacht, die standhält und nicht vergeht: zwischen Johann Nickel und Marischa Malinina. Diese Liebe gab ihm (und auch ihr) die Kraft angesichts aller Gefahren und aller Schwierigkeiten zu überleben und
zu überbrücken. Liebe kann im wahrsten Sinne des Wortes Berge versetzen: Wer sehnt sich nicht nach solch einer Liebe! Hier exemplarisch: „Hinter einer bunten Bettdecke schauten zwei junge, erhitzte Gesichter hervor. In ihren glänzenden Augen spiegelten sich die hellen Flammen des Eisenofens wider. Die nassen Klamotten hingen auf einer Line und leichter Dampf stieg von ihnen empor.
Ist dir warm, Wanja? Ja! Du glühst, Marischa! Träumen wir, Wanja? Bestimmt, Marischa, gewiss... Danach wurde es still. Nur das Feuerknisterte lustig weiter.“ (S. 19) Ein ungewöhnlicher Roman, voll Abenteuer, eingebettet in die tragische Geschichte der
Russlanddeutschen und in den gesamten sowjetischen Kosmos mit all seinen politischen und ideologischen Abgründen. Eine unglaubliche Geschichte. Kaum fängt man an das Buch zu lesen, gerät man in einen starken Sog und kann nicht loslassen, eher man es zu Ende gelesen hat. Wenigstens mir erging es so: Ich begann am späten Abend und verschlang es gegen Mitternacht. So was ist mir schon lange nicht mehr passiert; ansonsten kann ich wochenlang mit unzähligen Unterbrechungen ein Buch lesen wie z. B. der jüngste hoch gepriesene DDR-Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp, an dem ich schon seit der letzten Frankfurter Buchmesse herumkaue. Das Schicksal eines Russlanddeutschen auf eine ganz andere, eine abenteuerliche, originelle, faszinierende Art erzählt – das ist neu in der russlanddeutschen Literatur und erweckt großes Interesse: Im Mittelpunkt des Geschehens steht das ungewöhnliche Schicksal des jungen Russlanddeutschen Ivan Nickel, weiter über den Inhaltsfaden in VadW, 11/08, S.47. Lesen bildet bekanntlich und so ergeht es einem beim Lesen des Romans von Heinrich Rahn „Der Jukagiere“: Man erfährt „so nebenbei“ sehr viel über Leben und Weben sibirischer Völker, über das Sowjetsystem mit seinem Archipel-Gulag, speziell über das Schicksal der Russlanddeutschen, über Klima, Natur, Tierwelt und Fauna und viel mehr. Übrigens ist der Autor ein ausgezeichneter Naturbeobachter, ein Meister der Naturschilderung; seine Naturbilder stehen aber nie isoliert, sie bereiten den Leser vor auf ein wichtiges Ereignis, bringen ihn in eine bestimmte Gefühlslage, zum Exempel: „Die Hütte stand in der Mitte eines Talkessels an einem schmalen Bach, der wie ein gewundener Eisgürtel glitzerte. Rundherum erhoben sich hohe Berge, deren steile Hänge mit einer Nadeldecke aus buschigen Zirbelkiefern und kahlen Lärchen ummantelt waren.“ (S.103) Das ist nicht bloß Beschreibung, das ist Schilderung, das ist Literatur hoher wenn nicht höchster Qualität. Und das Buch ist voll solcher oder ähnlicher Beispiele. Eine andere Stärke des Autors sind die Details, die nur ein echter Dichter sehen und auch noch sprachlich wiedergeben kann, z. B. „Lena und Igor spürten, wie ein
zotteliger (kursiv – W. M.) Nachtfalter leise ihre erhitzten Gesichter umschwirrte.“ (S. 175) Besonders gelingt Heinrich Rahn die Schilderung der Tiere, z. B.: „Der Elch hatte sich nach einiger Zeit etwas beruhigt. Anscheinend sah er mich wegen der buschigen Zweige nicht mehr. Er schien nun etwas Neues zu wittern. Seine langen Ohren schlugen hoch und die großen, feuchten Nüstern öffneten sich.“ (S. 141) Das Polarlicht spielt eine besondere Rolle und ist eine originelle Erfindung von Heinrich Rahn speziell für diesen Roman, vergleichbar mit dem Maus-Corser des modernen Computers bringt es den Leser im Nu von einem zum anderen Ort „Das Polarlicht schickte seinen dunkelroten Strahl zu den Verschollenen. Einige Monate waren bereits vergangen. Der nördliche Frühling zögerte sein Kommen noch weiter hinaus. Eine bedrohliche Stille herrschte in der Hütte im namenlosen Talkessel. Das Feuer im Herd
flackerte nur spärlich.“ (S. 110) Über die ganze Strecke des Romans, und das sind immerhin 267 Seiten, kommt Heinrich Rahn ohne übel riechende Schimpf- Schlupf- und Sumpfwörter aus, die in der heutigen modernen deutschen Literatur dicht gesät sind und oftmals wie Jauche hoch stinken, das einem aufstößt, übel und zum Kotzen wird, so z. B. aus dem Roman „Die Lust“ der Nobelpreisträgerin 2004 Elfriede Jelinek nur eine Episode von mehreren in diesem Buch, die obszön, menschenverachtend und entwürdigend, bodenlos schlüpfrig und ekelig wirken: „Der Vater hat einen Haufen Sperma abgeladen, die Frau soll alles aufwischen gehen. Der Direktor zieht ihr die Reste ihrer Kleidung aus und beobachtet sie beim Wischen und Flechten, beim Weben und Winden von Fetzen. Einmal fallen die Brüste nach vorn, dann schwanken sie vor der Frau herum, während sie scheuert und erneuert. Er zwickt die Warzen zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, und dann dreht er dran herum, als wollte er einen Mikrokosmos Birne einschrauben. Er schlägt mit seinen jähzornigen, schweren Kaldaunen, die vorn, ein helles Himmelsfenster, im Ausschnitt seiner Hose erscheinen, von hinten gegen ihre Schenkel. Wenn sie sich jetzt bückt, muss sie die Beine spreizen. Er kann jetzt ihren ganzen Feigenbaum mit einer Hand umfassen und die Finger zornig Wanderer spielen lassen. Übrigens, wenn sie schon die Beine aufgeklappt hat, kann sie sich gleich über
ihn stellen und ihm in den Mund pissen.“ (S. 40-41) Kein Vergleich mit unserem Heinrich Rahn und seiner Schreibweise und Schreibmanier, hier vielleicht die schönste Szene aus seinem Roman - jedenfalls für mich -, die an Erotik hauchdünn grenzt und trotzdem höchste Literatur im klassischen humanen Sinne kennzeichnet:
„Ivan und Kina benötigen in dem rasch aufgebauten Zelt keinen Schlaf. Geplagt von ungeheurem seelischen Durst und Hunger, prallen die beiden Gegensätze aufeinander und rissen die Kleiderrinde voneinander. Danach schluckte die buschige Fangblume hastig das
federnde Rohralien, das wild in den feurigen Tiefen hin und her raste. Aber es wollte sich nicht befreien, sondern genoss die Gefangenschaft und schoss eine spritzige Salve frecher Eroberer, die die Burg der Begierde furchtlos angriffen. Sie bildeten eine lebende Pyramide und schoben einen ihrer dickköpfigen Mitstreiter über die Mauer, damit er sich mit derPrinzessin der Festung verkuppeln konnte, um ein neues Wesen zu zeugen. Bei dieser einzigartigen Schlacht gingen alle übrigen Angreifer zugrunde, wobei Schmerz und Jubel sich vereinten und in einem zarten, zornigen Ausruf in der nächtlichen Taiga verhallten. Draußen verspürten die saftigen Kronenblätter einen Duft von Rosmarin und stillten unaufhörlich den noch immer steigenden Durst, während die wuseligen
Wesen ihr kämpfendes Verlangen fieberhaft fortsetzten. Die Sonne ging mehrmals auf
und unter, bis eines Morgens das Begehren gesättigt war und die geschwächten Körpernach tierischer Nahrung lechzten. Ein
neugieriger Auerhahn, den die ungewöhnlichen Geräusche im Zelt aufmerksam gemacht hatten, fiel zu Boden, durchbohrt von einem scharfen Pfeil, der von einem Bogen abgesprungen war. Dies war die erste Tat, die Kina als Frau vollbrachte, während ihr Gemahl
schlief. Dann machte sie ein Feuerchen. Sie bedeckte den großen Vogel samt schwarz glänzenden Federn mit sengender Glut und Asche. Und einige Zeit später, als Ivan erwachte, wurde der Hahn einfach aus dem Gefieder wie aus einem Futteral herausgenommen. Das duftende gebackene Fleisch kam zum Vorschein. Ein köstliches Festmahl begann...(S. 128-129) Ob der Roman „Der Jukagiere“ auch Schwächen aufweist, wie so üblich in einem großen Werk? Doch auch das gibt es und kommt stellenweise vor, nur auf drei könnte und möchte ich hier hinweisen, die aber keinesfalls die Qualität des Werkes schmälern oder herabsetzen:Schwarz-Weiß-Malerei, Stilbruch, Gebrauch von farblosen Adjektiven. Doch finde ich esbelanglos, das hier durch Beispiele zu belegen.
Dr. Wendolin Mangold